Liebe Freunde aus Treviglio / Cari amici di
Treviglio,
seit ca. 20 Jahren erleben wir in Italien
eine historische Epoche, die man ja uneingeschränkt als
“apokalyptisch” definieren könnte, wobei ich den Begriff
“apokalyptisch” in seiner ursprünglichen religiösen Bedeutung
von “Offenbarung / Enthüllung” verwende. Aber aufgepasst!
Unsere jetzige Apokalypse hat mit der Vergangenheit gar nichts zu
tun, sondern eher mit der Zukunft …. Dazu handelt es sich nicht um
vier, sondern nur um einen einzigen Reiter, der unter anderem nie die
Absicht hatte, eine harte Gerechtigkeit mitzubringen.
Das Ganze hat sogar auf eine fast
lächerliche Art und Weise angefangen: ein ehemaliger
Staubsaugerverkäufer und Kreuzfahrtsänger – gekennzeichnet durch
eine einnehmende Umgangsweise, sehr geschickt beim “Schwimmen” in
der Vetternwirtschaft der Politik – außerdem Baulöwe,
Medienmogul, genialer Manipulant in einer Person ist direkt in die
Politik eingestiegen. Eine echte Lachnummer!
Nichtsdestoweniger kannte ein solcher
Scharlatan unser Land viel besser als wir selbst. Während wir uns
den Kopf zermarterten, um zu verstehen, wie die Krise der ersten
Republik entstanden war, wie sie zu deuten war und wie eine neue
demokratische Ordnung wiederherzustellen wäre, wusste er ein altes
Modell wieder vorzulegen, das bei uns schon seit dem späten
Mittelalter immer wieder funktioniert hatte. Anstatt sich auf
zahlreiche, nutzlose Diskussionen unter den unterschiedlichen
kommunalen Clans oder Parteien einzulassen, hatten die Bürger am
besten dem jeweiligen ‚Zampano’ die Macht anvertraut und somit
sich selbst in Untertanen verwandelt. Denn so hatte schließlich
jeder etwas zum Essen bekommen und seinen Spaß gehabt.
Unser Land hatte im Übrigen zu Beginn
der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts bereits eine solche Phase
durchgemacht. Gegenüber der Angst vor einer gesellschaftlichen, eher
herbeigebrüllten als vorbereiteten Revolution, gegenüber den
Unsicherheiten der Demokratie und dank dem geschickten Missbrauch der
kriegerischen Tugenden als Hebamme der Nation gelang es einem
ehemaligen Grundschullehrer bzw. populistischen Journalisten, der die
Massen auf eine rüde und volkstümliche Art und Weise erobert hatte,
den König (wohlgemerkt den König!!) davon zu überzeugen, zur Seite
zu treten. Und warum dies? Einfach weil er, der wegweisende Diktator,
die Sache wieder in Ordnung bringen und aus einem müden Volk endlich
eine Nation machen wollte.
So beging der König Harakiri für sich
selbst und seine Abkommen. Was für ein König!! Danach wurde das
Land dank dem erwähnten Steuermann in einen tragischen und
unbedachten Krieg verwickelt. Seitdem, seit jener harten Lektion der
Geschichte, sah es so aus, als ob das Land das Abece der
demokratischen Prinzipien, der Gewaltenteilung, der erforderlichen
Sittlichkeit und eines gesunden Bürgersinnes, das Abece der
Entwicklung einer breiten Zivilgesellschaft gelernt hätte.
Weit gefehlt! Leider haben wir in jungen
Jahren dem ungebremsten Trippeln von uralten, dennoch sehr rüstigen
Heuschrecken beigewohnt: Individualismus, Familismus, Privatismus,
Partikularismus, politischer Opportunismus, Klientelwirtschaft,
Servilismus. Echte “-Ismen”, die eine Nation konstituieren!!!
Wir haben wieder feststellen müssen, dass
unser Mittelstand unbedeutend ist, vor allem in qualitativer Hinsicht
und dass unsere Intellektuellen entweder Feiglinge sind oder gar
keine nützlichen Ideen entwickeln können oder dass sie sie gar
nicht vermitteln können.
Es ist also offenkundig geworden, dass in
Italien eine fatale Symbiose zwischen Mammonanbetern, Anhängern des
politischen Oberhaupts, groben Kirchturmpolitikern und Nostalkigern
der Theokratie erneut entstanden ist.
Diejenigen, die in der jüngsten
Vergangenheit dieser Unsitte Widerstand geleistet haben, haben auf
eine sporadische, unsystematische Art und Weise immer versucht, das
Fortschreiten dieser allgemeinen Tendenz zu verhindern. Sie haben
sich entweder auf faule Kompromisse eingelassen oder haben eine
starre Oppositionsarbeit geleistet oder an die “gesunden Kräfte”
des Volkes appelliert, wobei sie einen Tümpel für das Meer hielten.
Lediglich wenige haben gemerkt, leider auch zu spät, dass eine
solche Symbiose bei uns eine lange Tradition aufweist. Und wehe dem,
der Geschichte und Tradition nicht versteht, denn derjenige, der
langfristig nicht zu planen vermag, der kann auch kurzfristig nicht
die richtigen Entscheidungen treffen. Darüber hinaus ist die
Unkenntnis des Gegners und des Kampfplatzes immer die beste
Voraussetzung für eine Niederlage.
( I )
EINIGE TATSACHEN
Lassen wir aber nun den sarkastischen Ton
beiseite und richten wir unsere Aufmerksamkeit auf DREI TATSACHEN,
die meiner Ansicht nach sowohl unbestreitbar als auch enorm wichtig
sind, wobei ich sie zeitlich rückwärts gehend anordnen möchte:
1 ) In den letzten zwei Dekaden haben wir
dem fortlaufenden moralischen und
mentalen Verfall einer Nation
beigewohnt. Auf öffentlicher Ebene hat sich dieser Verfall auf eine
vielfältige Art und Weise manifestiert: in der Ausbreitung der
Improvisation und der institutionellen Inkompetenz, in der
Profilierungssucht, in der Mentalität, “einen Coup „ landen zu
wollen, in der missbräuchlichen Verwendung der öffentlichen
Einrichtungen zu privaten Zwecken etc. etc. Wenn man aus diesem
schäbigen, dennoch kohärenten Sammelsurium an Fakten eine
Definition des Begriffs “Demokratie” entnehmen müsste, dann
könnte man nur auf folgendes schließen: “ Demokratie = die Gosse
an der Macht “. Jawohl, Calderoli, Bossi, Sgarbi, Cota, Fede,
Santanché, Feltri, Verdini, Herr B. und viele seiner Fräulein
repräsentieren die Mediengosse,
die ununterbrochen aus der Mattscheibe herausquillt.
2) Dieses ‚erbauliche’ Szenario hat
hoffnungslos das unterstrichen, was manch einer schon länger geahnt
hatte: die fehlende Solidität der republikanischen Institutionen und
die verbreitete Verachtung für die Grundprinzipien der Demokratie im
engsten paradigmatischen Sinne.
3 ) Seit rund einem Jahrhundert – mit
Sicherheit seit 1914 – hat Italien keine dauerhaften Fortschritte
im Bürgersinne und als Staat gemacht. Denn jene starken Beteuerungen
des nationalen Bewusstseins (Intervention in den 1. Weltkrieg und
Faschismus) haben in der Tat zu großen kollektiven Desastern
geführt. Die improvisierte Intervention im Ersten Weltkrieg, von den
konservativen Kräften und von Profiteuren gewollt, verursachte, wie
es zu erwarten war, nicht nur die bekannten Gräuel, sondern auch
eine soziale und ökonomische Zerrüttung. Sie beschädigte außerdem
das Fundament der an sich bereits schwachen Demokratie. Der
Faschismus, der aus dieser Krise entstand, versuchte im Nachhinein
einen nationalen Bürgersinn künstlich bzw. auf eine autoritäre und
antidemokratische Art und Weise zu erzwingen, und zwar nach einem
ideologischen Schema, das sich als nicht nur als unmoralisch oder
kriminell, sondern auch als zutiefst unhistorisch erwies. Was daraus
folgte, war eine noch destruktivere und höchst erniedrigende
Katastrophe. Der dann folgende demokratische Wiederaufbau als
Resultat der Widerstandsbewegung (das positivste Reservoir an Ideen
und Energien des letzten Jahrhunderts) lief aber auf zwei enorme
Sandbänke auf: den kalten Krieg und die ideologisch-religiöse
Spaltung des Landes.
Unsere Demokratie war und ist eine
Demokratie, die zwar von gesunden Prinzipien inspiriert ist, die aber
nicht zum Blühen kam, weil sie mit der ungelösten Gespaltenheit
historischer oder gar eschatologischer Natur unseres Landes
zusammenleben musste. Der Zusammenbruch der so genannten ersten
Republik und die politisch-historische Phase, die wir gerade erleben,
haben uns einmal mehr aufgezeigt, dass wir weiterhin ein geteiltes
und schwaches Land sind, das im Vergleich mit unseren europäischen
Hauptpartnern in mehrerer Hinsicht noch „rückständig“ ist.
( II )
ERSTE ANALYTISCHE ANNÄHERUNG AN DAS THEMA
( a )
Nun will ich mich an einer sehr kurzen
Anamnese unserer tiefen Übel versuchen, um schnell zu einer
lapidaren Diagnose zu kommen.
Wie bereits gesagt, sind in den letzten
zwei Dekaden einige italienische Ur-Übel mit Wucht erneut
hervorgequollen: der Familismus, der unersättliche Individualismus,
der Privatismus, das Primat der lokalen Behörde, des Klans oder des
religiösen Konventikels, die Klientelwirtschaft, der politische
Opportunismus, der zynische und ungenierte Gebrauch jedweder
Ideologie. Demjenigen, der verstehen möchte, wie es mit solchen
Dingen steht, empfehle ich die Lektüre eines sehr lehrreichen Essays
von Giacomo Leopardi: “Rede über den gegenwärtigen Zustand der
Sitten der Italiener”. Eine kleine Arbeit, die unser frühreifes
Genie um 1824 verfasste, welche aber erst 1906 veröffentlicht wurde.
Natürlich eine Schrift, die den meisten Italienern weitestgehend
unbekannt ist.
Die Übel, die unser Autor aus Recanati den
Landsleuten vorwarf, sind mehr oder minder die oben aufgelisteten.
Was drücken aber solche Symptome aus? In Kürze: das Fehlen einer
gesunden Zivilgesellschaft, verbreitet in allen Sozialschichten und
fähig, die Bürger einzubinden in starke Bräuche, Sitten und
Regelwerke, die von allen nachvollzogen werden. Noch knapper
ausgedrückt: das Fehlen des Sinns fürs Universelle. Hegel würde
hier hinzufügen: auch das Fehlen einer selbstbewussten
staatstragenden Mittelschicht als Hüterin des Universellen.
( b )
Aber wieso – könnte einer fragen –
fehlt bis jetzt bei meinen historischen Überlegungen jeder Hinweis
auf die Bewegung der Achtundsechziger ? Aus Vergesslichkeit
vielleicht ? Oder weil ich denke, dass diese Bewegung irrelevant war
? Weder das Eine noch das Andere ist der Fall. Ich glaube sogar, dass
über sie nicht zu schweigen ist, vor allem wenn man aktiv dabei war.
Einerseits war der Aufbruch der
Achtundsechziger eine schöne Bewegung. Sie zerriss die Fesseln einer
biederen, autoritären Kultur, sie bahnte allen den Weg für eine
freiere Lebensweise, sie brachte die Frage der Gerechtigkeit in den
Vordergrund. Sie bedeutete auch die Wiederaufnahme der Ideale des
antifaschistischen Widerstandes. Und soweit sie das Wachstumsfieber
unserer industriellen Gesellschaft war, wirke sie positiv. Und diese
positive Rolle soll ihr eingeräumt werden. Andererseits ist
hinzuzufügen, dass niemand unter ihren Anführern oder Inspiratoren
die tiefliegenden Probleme des Landes verstanden hatte. Keiner von
ihnen verfügte ebenfalls über fundierte Kenntnisse seiner
Geschichte und seiner internationalen Stellung.
Für uns war das einzig echte Problem das
der unterdrückten Klassen. Ein Problem, das mit der Machtübernahme
durch das Volk zu lösen war. Wir ahnten keineswegs, dass auch die
geringe Relevanz und das dürftige Selbstbewusstsein des Bürgertums
ein schwerwiegendes, ungelöstes Problem waren. All dies waren damals
in unseren Augen Scheinprobleme. Alles war durch das Proletariat –
Vater, Mutter und Hebamme des neuen Menschen – zu lösen. Jawohl,
um alles hätte sich das Proletariat gekümmert, selbstverständlich
flankiert von den Studenten, von den revoltierenden Frauen, von den
sardischen Hirten… und so weiter. Wir dachte, wir würden eine
Morgenröte zu erleben… in der Tat standen wir vor einem
Sonnenuntergang, da die 68er-Bewegung in Italien der allerletzte
chiliastische Aufstand in der abendländischen Geschichte gewesen
ist.
Ich glaube, es wäre unsere Pflicht, mit
unserer Vergangenheit abzurechnen, mit unseren Fehlern, die Fehler
bleiben, selbst wenn sie aus einem Übermaß an Großzügigkeit oder
aus Nicht-Wissen herrührten. Denn die 68er-Bewegung hatte auch
schlimme Folgen. Gemeint ist zum Beispiel folgendes: Es machte sich
ein Desinteresse am Bürgersinn und an den bürgerlichen Tugenden
breit; die echten Probleme des Staates blieben unverstanden; man
verstand nicht, wo die Verbündeten zu suchen waren; man hegte ein
fast anthropologisches Misstrauen gegenüber den Eliten, den
Hierarchien und der Belohnung jeglichen Verdienstes. Wenn man aber
Rückgrat zeigen will, muss man mit dem eigenen historischen Versagen
abrechnen, und zwar in der Öffentlichkeit. Eine ernste Selbstkritik
tut not, wenn man all das Richtige von damals retten und wenn man
sich wieder auf den Weg machen will. Es sieht nämlich so aus, dass
es noch viel zu tun gibt.
Denn die Hauptprobleme, die immer noch auf
der Tagesordnung stehen, sind meines Erachtens uralt. Es sind die
Formung einer Nation, die diesen Namen verdient, die Entstehung eines
echten Bürgersinnes, der Aufbau eines effizienten und gerechten
Staates, der sich der Kontrolle nicht entzieht, die Schaffung einer
ausgewogenen Gesellschaft, die allen Bürgern gleiche Chancen bietet.
Es ist das Problem des guten Regierens und Verwaltens, die
Transparenz der Institutionen, das Gedeihen eines Mittelstandes, der
nicht parasitär, sondern dynamisch und mit einem gesunden Sinn für
das Gemeinwohl versehen sein soll. Es ist das Problem der Förderung
der sozialen Mobilität.
Alte Verfechter und Vorkämpfer solcher
Änderungen, denen wir leider nicht gefolgt sind, waren in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Menschen wie Bobbio,
Calamandrei, La Malfa, Montanelli, Lombardi, Amendola, Ernesto Rossi.
Jeder kann andere Namen hinzufügen, aber wenn wir solche Fragen
radikal stellen wollen, dann müssen wir zu Antonio Gramscis greifen,
an seine Gefängnishefte. Denn niemand verstand besser als er die
Natur unserer Probleme. Er verstand nämlich auch, wie nötig es
wäre, dass die Arbeiterbewegung dem Mittelstand die Chance biete,
sich zu regenerieren, und dass sie die Grundlagen für ein mögliches
Bündnis mit ihm schaffe. Nach diesem ‚Polarstern’ versuchte sich
die KPI zu orientieren, aber objektive Schwierigkeiten, Mangel an
intellektueller Radikalität… und nicht zuletzt an Realismus ließen
diese Partei orientierungslos abdriften. Der KPI, wenn sie noch
existieren würden, wären wir aber sicher einer Entschuldigung
schuldig.
( III )
ZWEITE ANALYTISCHE ANNÄHRUNG AN DAS THEMA
Reden wir nicht um den heißen Brei herum!
Historisch gesehen, schon immer war die Katholische Kirche das
Problem aller unseren Probleme, und zwar seitdem sie sich – in der
Regierungszeit von Papst Gregor VII bis Papst Innozenz III – als
eine echten onarchie entwickelt und sich das Recht angemaßt hatte,
selbst in weltlichen Angelegenheiten die allerhöchste Instanz zu
sein. Wir sollen es nicht vergessen: Ihr erklärtes Ziel war die
theokratische Vormachstellung. Dadurch wurde Italien – vom
Investiturstreit bis zum totalen und gnadenlosen Kampf zwischen
Geulfen und Gibellinen – das Epizentrum der Konfrontation zwischen
unseren Khomeinisten ante litteram und den laizistischen Kräften.
Dann, als die theokratischen Ansprüche zurückweichen mussten, war
Italien bereits ein gespaltenes und zerstückeltes Land geworden, der
perfekte Nährboden für allerlei Zwietracht.
Selbst dem kommunalen Wagnis fehlte sowohl
der historische Rahmen als auch der geistige Horizont, um sich zu
einer echten Staatlichkeit zu entwickeln. Unterdessen entstanden
woanders in Europa die Nationalstaaten, welche, um die Zustimmung der
Kirche zu bekommen, ihr das Recht auf die direkte oder indirekte
Herrschaft auf der Halbinsel zuerkannten. Denn – ausgenommen die
Republik Venedig, die auf ihre Autonomie stolz war – genossen alle
übrigen Staaten oder Zwergstaaten bloß eine begrenzte Souveränität.
Jahrhunderte lang übte das Papstum sein Vetorecht aus, sei es
politisch sei es militärisch, gegenüber jeglicher Absicht oder
jeglichem Wunsch, das Land auf weltlicher Ebene zu vereinigen.
Ideologisch und kulturell wurde die
Kontrolle über das Land durch die mittelalterliche Inquisition und
durch das Verbot von unerwünschten Veröffentlichungen geübt. Bloß
zwei Beispiele dafür: Dantes Werk “De Monarchia” wurde schon
1328 öffentlich verbrannt ( sieben Jahre nach dem Tod des Dichters
). Gleiches Schicksal für den “Defensor pacis” von Marsilius von
Padua, und zwar schon 1327, zu Lebzeiten des Verfassers, der sich
nach Bayern retten musste. Ich erwähne nicht umsonst diese Texte.
Sie waren der Höhepunkt der Rechts- und Staatsphilosophie in der
Blüte des Mittelalters. Beide Bücher konnten im restlichen Europa
enorm wirken, bloß bei uns nicht.
Dann waren natürlich Lorenzo Valla.
Savonarola, Machiavelli, Erasmus an der Reihe: Alle auf den Index der
verbotenen Bücher oder auf den Scheiterhaufen und auf den Index !
Die Lage verschlechterte sich dann dramatisch gegen die Mitte des 16.
Jahrhunderts dank Papst Paul IV und den Päpsten, die gleich nach ihm
kamen. Um die Reformation einzudämmen, griff die katholische Kirche
zu drakonischen Maßnahmen.
Ganz oben in den Gedanken der Anführer
der Gegenreformation stand der feste Wille, mit jedem Mittel zu
verhindern, dass die neuen Ideen in die Halbinsel eindringen könnten.
So wurde eine fieberhafte Kampagne gestartet, um das ganze Volk
engmaschig und systematisch zu kontrollieren. Somit mussten Tausende
von “Ketzern” oder von in Verdacht geratenen Andersdenkenden die
Flucht ergreifen oder schweigen oder sich als brave Katholiken
tarnen. Die Kontrolle wurde so streng, dass sämtliche Übersetzungen
der Bibel ins Italienische, egal ob vollständig oder bloß partiell,
verboten und verbrannt wurden. Bloß die “Vulgata”, die
offizielle Übersetzung ins Lateinische war erlaubt.
Es geschah also, dass gerade das heilige
Buch der Christenheit das meist verbrannte Werk war. Durch jene
große “Reinigungsaktion der Seelen” beendete die Kirche die
Renaissance und die kulturelle Vorrangstellung Italiens, die seit 350
Jahren dauerte: Von circa 1280 bis zum Jahr 1633, als Galileo
verurteilt und zum Abschwören gedrängt wurde. Schließlich waren
die Verbindungen zum Rest Europas gekappt und ein morastiger
Konformismus hatte sich breit gemacht.
Wer könnte sich wundern, dass sich der
Schwerpunkt der Wissenschaft woanders hin in Europa verlagerte, dass
unsere Aufklärung und unsere Romantik klägliche Erscheinungen
blieben ? Jemand könnte aber entgegnen: zum Schluss haben wir es
geschafft. Ja, aber wie ? Die nationale Vereinigung war das Werk von
kühnen Eliten à la Garibaldi, die in keiner präzisen Klasse fest
verankert waren oder die sich mit einer solchen genau
identifizierten. Sie war außerdem das Werk Cavours, eines genialen
Politikers, der den piemontesischen Staat, nicht gerade den
hochmodernsten oder am besten aufgerüsteten Staat, forcierte, das
Abenteuer der Befreiung Italiens von den Ausländern zu wagen.
Man vergesse auch nicht, dass der zweite
Befreiungskrieg ohne die französischen Truppen niemals erfolgreich
gewesen wäre. Man sollte ebenfalls nie vergessen, dass der dritte
Befreiungskrieg zu einer schweren Niederlage geführt hätte, hätten
nicht die Preußen den Habsburgern 1866 eine ruinöse Schlappe
beigebracht, und dass Rom, wären nicht die Franzosen in Sedan durch
die deutschen Armeen geschlagen worden, von den italienischen Truppen
nicht eingenommen worden wäre. Es ist also nicht angebracht, sich
besonders zu brüsten.
Wie es auch sei, von 1860 bis 1914 wurden
schließlich die Grundlagen für die Emanzipation des italienischen
Volkes geschaffen. Aber was können 54 Jahre bedeuten ? Danach kam
der Verderb des Krieges und dazu der des Faschismus, der sich 1929
mit den Lateranverträgen der Kirche beugte. Und wiederum ein
desaströser Krieg, für den man sich noch zutiefst schämen sollte.
Danach kamen die Befreiung durch die Alliierten und durch die
Partisanen, die Republik und die Rückkehr zur Demokratie, jedoch
einer Demokratie der besonderen Art, die durch tiefe politische,
historische und religiöse Konflikte zerrissen war.
Und schließlich kam der Zusammenbruch der
ersten Republik… dem die Rückkehr zur Epoche der „Signorie“
und zu einer Parodie des Cäsarismus folgte. Donnerwetter, es sieht
so aus, dass der Kreis sich geschlossen hätte ! Scheint euch nicht
vielleicht die Zeit gekommen, sich wieder auf den Weg zu machen, der
im zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts abgebrochen wurde?
( IV )
UN NUN, WAS TUN ?
Es wäre absurd zu denken, man solle –
in einer Art Zeitraffer – genau jene Wege wieder zurückzulegen,
die andere Länder in ihrer Geschichte gegangen sind und die unserem
Lande versperrt blieben. Obwohl die konstitutiven Momente der
Veränderung im Grunde gleich geblieben sind, ist nicht daran zu
denken, man solle oder man könne eine reinigende Erneuerung der
Sitten nur durch die protestantischen Reformationen oder dank einer
glatten Wiederholung der Aufklärung bewirken.
Genau diese Ereignisse und Prozesse
änderten nämlich das Schicksal von Länder wie England, Frankreich,
Holland, Deutschland, oder der skandinavischen Länder oder der
Schweiz. Genau darauf wurden die U.S.A. gegründet. Nein, wir müssen
einen anderen Weg gehen, der auf der Höhe unserer säkularisierten
Zeit ist. Jedenfalls müssen wir uns mit unserer Geschichte
auseinandersetzen. Ebenfalls ist mit der Katholischen Kirche
historisch abzurechnen.
Wie viel von einem theokratischen und
gegenreformatorischen Gedankengut wohnt noch in den Seelen der
Anhänger von Comunione e Liberazione, welche sicher nicht zufällig
wichtige Stellen in der Presse von Berlusconi, in der öffentlichen
Verwaltung, im Finanzwesen, in der Schule, in der Bewegung der
Genossenschaften innehaben !
Und wie viele Katholiken, die noch dem
zweiten vatikanischen Konzil treu geblieben sind, betrachten den
Staat bloß unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität und glauben,
dass das ehrenamtliche Engagement die denkbar optimale Lösung aller
sozialen Probleme sei ! Auch sie haben nach wie vor nicht begriffen,
dass bei uns die Errichtung eines wohl funktionierenden und gerechten
Staatswesens ein noch zu erreichendes Ziel ist.
Und wie viel an partikularistischem
Kleingeist steckt immer noch in den Körpern und in den Köpfen jener
Lombarden, die stolz auf Pontida und Legnano sind und noch nicht
verstanden haben, dass der „ große Sieg “ über Barbarossa die
Vorstufe des Desasters war; jener Lombarden, die denken, dass
sämtliche Probleme dadurch zu lösen sind, indem man Rom, „die
diebische Stadt“, entmachtet ! Und wie viele Süditaliener, treue
Verehrer von Padre Pio, verkörpern immer noch ein
halb-abergläubisches Christentum und glauben, dass von den
Amtsträgern nach wie vor ein Wunder, eine Pfründe oder mindestens
ein Almosen zu verlangen sei !
Dies ist aber noch nicht alles. Die Kirche
selbst müsste sich verpflichtet fühlen, über ihre eigene
Vergangenheit gründlich zu reflektieren. Sie müsste zum Beispiel
den Italienern und sich selbst erklären, warum sie in der Zeit der
Gegenreformation auf der Halbinsel so autokratisch und brutal
jegliche Form von christlichem Pluralismus bekämpfte. Sie müsste
versuchen zu verstehen und zu erklären, wie sie dazu kam, den
Häresiebegriff so zu missbrauchen, dass vielerlei Formen von
Heterodoxie, die nicht ketzerisch waren, verfolgt und ausgerottet
wurden.
( a )
Wie könnte man angesichts solcher
Probleme ernsthaft erwarten, dass unsere schon so desorientierten und
kränklichen politischen Parteien der Haupthebel für die Erneuerung
des Landes sein sollten ? Nein, es kann nicht sein… obwohl das
Thema der Art und Weise, wie die Parteien eine solche Herausforderung
zu meistern hätten, eine Angelegenheit ersten Ranges ist. Aber jetzt
möchte ich mich nicht damit befassen. Ich will bloß die Frage
stellen: Wie kann man taktisch klug handeln, wenn die
Strategie unklar ist ?
Dabei möchte ich noch etwas verweilen.
Wenn meine Analyse auch annähernd stimmt, wenn die tiefen und
fatalen Übel, an denen unser Land krankt, mit der Tatsache zu tun
haben, dass Italien – von kurzen Zwischenzeiten abgesehen –
dauernd von den Guelfen beherrscht wurde – und, wohl bemerkt,
nicht von den Christen, nicht von den Katholiken überhaupt, sondern
von der guelfisch-päpstlichen Untergruppe – ; dann dürfen wir
diese traumatische und folgenreiche Vergangenheit nicht verdrängen.
Wir haben die Pflicht, zu verstehen und zu erklären, was genau die
Politik der Guelfen war und ist. Und um Missverständnissen
vorzubeugen, will ich versuchen, dieses historische Phänomen zu
definieren.
Der Guelfismus war schon immer in Italien
die Ehe zwischen dem weltlichen Partikularismus und dem
überweltlichen Universalismus. Eine Ehe, in der die Laien, seien sie
von niedriger Herkunft, mächtig oder übermächtig und arrogant,
ihre eigenen privaten Interessen verfolgten und zugleich der
überweltlichen Instanz die Vollmacht gaben, sich um das Geistige zu
kümmern, die ethischen Prinzipien zu stiften und die
Identifikationsriten der ganzen Gemeinschaft zu pflegen.
Eine hohe Instanz, die sich natürlich von
überweltlichen Kriterien führen ließ und lässt, die das Denken
und Handeln, die Wünsche , die Willensakte und die soziale
Interaktion lenkte und lenkt, und zwar entlang der Achse, die
Seelenheil von Verdammung trennt, und gleichfalls entlang dem Viereck
Schuld-Reue-Vergebung- und Tilgung der Schuld.
Nun, diese katholischen Geometrien haben zu
oft uralte, sogar vorchristliche Herrschaftsformen und soziale
Rangordnungen geduldet. Beispiele dafür sind der Paternalismus, der
Familismus, der jegliche Bürgerpflicht missachtet und die
Klientelwirtschaft. Solche Geometrien waren schon immer der ideale
Nährboden, um die vollkommen immanenten Werte der
Allgemeingültigkeit und Überkonfessionalität des Gemeinwesens zu
umgehen oder zu schwächen, oder sogar um die bürgerlichen Tugenden
zu verachten. Daher sehen wir unter gewissen edlen Flügeln so oft
und gerne so viele kauern, die die Freiheit der Wilderei oder des
Schwarzmarkts praktizieren.
Wenn es so ist, dann kann sich allein eine
strikt laizistische Strategie auszahlen, die an die Aufklärung im
engen Sinne anknüpft. Ich meine damit eine Strategie, die sich an
dem Kriterium der immanenten Allgemeingültigkeit orientiert, die
leidenschaftlich versucht, die Gesellschaft von ihrer
manisch-depressiven Psychose und von ihren vielen Ungerechtigkeiten
zu befreien, und ebenfalls von ihrer geringen Fähigkeit, sich selbst
zu organisieren und schließlich von der weit verbreiteten
Anpassungskunst.
Ich denke, dass die Lage in Italien sich
nur unter der Bedingung bessern lässt, dass wir uns von den
konstituierenden Prinzipien der großen Demokratien wirklich und
dauerhaft inspirieren lassen. Nur so besteht die Chance, eine Allianz
von historischer Tragweite zu schmieden, die auch unsere allzu
bekannten Nationalprobleme in Angriff nimmt. Gemeint sind vor allem:
*der Säuberung des Südens von den
Mafiahochburgen, damit sich die dortige Gesellschaft von ihrem Übel
befreit;
**die Veränderung der staatlichen Schule,
so dass sie wieder ein Wissen vermittelt, das dem besseren
Verständnis unserer Vergangenheit dient. Die Schule soll außerdem
imstande sein, die Schüler aus allen Schichten, jeder Herkunft und
Religion zu integrieren, ihnen allen gleiche Chancen zu bieten und
aus ihnen verantwortungsvolle Bürger zu bilden;
***eine kräftige Förderung der
wissenschaftlichen Forschung;
****das Ende der Schändung unserer Umwelt
und der unkontrollierten Bebauung;
*****die drastische Bekämpfung der
Steuerhinterziehung, welche bei uns ein absurdes und gefährliches
Ausmaß erreicht hat; parallel dazu soll der wahre Sinn der
Besteuerung wieder in den Mittelpunkt rücken.
Noch ein letzter Gedanke. Selbst wenn man
nur oberflächlich über die Natur dieser Aufgaben nachdenkt, kommt
man rasch zu diesem Schluss: man sollte jeglicher Versuchung
widerstehen , unser Land jetzt
föderalistisch umzubilden.
( b )
Ich kenne kein anderes westeuropäisches
Land, in dem die Bürgerrechte so systematisch verletzt oder
herabgesetzt werden wie in Italien. Darunter verstehe ich das Recht
auf körperliche Unversehrtheit, das Recht, zu wissen, wer, wenn es
welche gibt, die Schuldigen sind an einem Missstand, an einer
Veruntreuung, an einer Straftat, das Recht darauf, dass öffentliche
Gelder mit Sinn und Maß ausgegeben werden, das Recht auf Schutz vor
Monopolen. Ich möchte dies anhand einiger Beispiele verdeutlichen.
Einige davon sind allen bekannt, andere stammen aus dem Fundus meiner
persönlichen Erfahrung.
Dass es nach den Anschlägen auf der Piazza
Fontana, auf der Piazza della Loggia oder in Bologna, nach der
Explosion des Flugzeugs über Ustica nie zu klaren Verurteilungen und
zu angemessenen, definitiven Bestrafungen kam, ist eine Schande für
die ganze Civitas (so
wie sie schon die alten Römer verstanden). Und somit ist jeder
einzelne Fakt dieser Art damit auch eine Gewalttat gegenüber jedem
Bürger als solchem. Dies gilt ebenso dafür, dass die skandalöse
Rolle oder die Ineffizienz der staatlichen Organe im Umgang mit
diesen Ereignissen nicht von der Allgemeinheit thematisiert worden
ist, um wenigstens ein Schuldeingeständnis zu erreichen. Ebenso
schädlich ist es, dass diese Tatsachen nicht ausreichend
aufgearbeitet wurden, um ein historisch bedeutsames Erbe zu werden,
von der Allgemeinheit geteilt und getragen. Dasselbe gilt für die
Mafiamorde. Die zahlreichen Verletzungen des Gesetzes des freien
Wettbewerbs stellen ebenso viele Verletzungen der grundlegenden
Bürgerrechte dar. Und schließlich bedeutet auch die Tatsache, dass
eine Zugverspätung nicht angekündigt wird oder Reisende nicht über
Alternativen informiert werden, ebenfalls die Verletzung eines
Rechtes.
Und wie sollte man mein Erlebnis
charakterisieren, als ich sah, dass der damals nagelneue Flughafen
Malpensa einem riesigen, von Dilettanten geplanten Bahnhof glich, und
als ich feststellen musste, dass die Verbindungen nach Mailand und
der übrigen Lombardei miserabel waren? Ich war einfach sprachlos.
Haben Bürger etwa nicht das Recht, adäquate öffentliche Bauten und
Einrichtungen zu nutzen? Und was könnte man dazu sagen, dass an
einem 20. September Italienischlehrer für das Ausland zentral
in Rom eingestellt und zugleich aufgefordert werden, sich zwei Tage
danach mit Sack und Pack am jeweiligen Dienstort zu präsentieren?
Oder was könnte man dazu sagen, dass im Ferienmonat August
Italienischdozenten für ausländische Universitäten ohne
Vorankündigung via Internet versetzt werden, und zwar mit einer
Widerspruchsfrist von sage und schreibe drei Tagen? Stellt dies
vielleicht keine Rechtsverletzung dar?
In jedem anderen westeuropäischen Land,
sagen wir etwa in Frankreich, würde die öffentliche Meinung bei
einer Verletzung solch grundlegender Rechte aufstehen und
rebellieren. Bei uns in Italien hingegen hat man sich damit
abgefunden, Gerechtigkeit nicht zu verlangen. Wenn nun aber die Lage
so ist und man vor der Resignation nicht resignieren will, dann
bleibt keine andere Wahl, als sich von unten her zu organisieren.
Dann bleibt nur noch, den Protest zu organisieren. Vielleicht
könnte die Gründung von Komitees
zum Schutz der Bürgerrechte nützlich sein ... Komitees, die
die Bürger vor den Lobbys schützen; Komitees, die dafür kämpfen,
dass die Missbräuche bestraft werden; Komitees, die die Frage einer
funktionierenden Justiz konkret, im Kontext, stellen und die den
Stand der Bürgerrechte in unserem Land mit dem von anderen
„normalen“ Ländern vergleichen und bestimmte Lehren daraus
ziehen; Komitees, die die Rechte von Einwanderern gewährleisten.
( c )
Selbstverständlich sehe ich mich nicht
dazu in der Lage, zu den spezifischen sozialen Problemen des heutigen
Italiens Stellung zu nehmen, daher fällt dieser Abschnitt besonders
„mager“ aus. Ich weiß aber, dass das Prekariat bei jungen
Menschen immer mehr um sich gegriffen hat, dass verschiedene Formen
der Ausbeutung der Arbeitskraft von Einwanderern, vor allem von
illegalen, sehr verbreitet sind. Ich habe hier keine konkreten
Vorstellungen, aber es scheint mir doch lohnenswert, zu schauen, ob
die Gewerkschaften in der Lage sind oder nicht, sich mit diesen
Phänomenen auseinander zu setzen. Aber der Kern der sozialen Frage
ist auch: Die öffentliche Meinung als Ganzes muss begreifen, dass
institutionalisierte Unsicherheit in den Arbeitsverhältnissen,
Schwarzarbeit und Niedriglöhne nicht nur dem Gemeingut Ressourcen
entziehen, sondern auch die Vorstufe zu wirtschaftlichem Niedergang
sind. Und in der Tat, in der heutigen Welt findet die Arbeit überall
leicht ihre Allokation: Die besser ausgebildeten jungen Menschen
gehen ins Ausland, die hoch motivierten oder fähigeren Migranten
ebenso. Wenn Ressourcen und Ideen zur Förderung technisch
fortgeschrittener Produktionsformen und Dienstleistungen nicht
mobilisiert werden, kommt es zum Niedergang. Der Wettbewerb zwischen
uns und besser aufgestellten Ländern, allen voran Deutschland, ist
eindeutig größer geworden.
Meiner Ansicht nach verweisen Fragen dieser
Art unmittelbar auf das Handeln der progressiven nationalen Parteien.
Sie müssen Reformvorschläge für den Arbeitsmarkt vorlegen und die
Allianz zwischen all denjenigen fördern, die die ökonomische
Wohlfahrt des Landes steigern. Dies natürlich zu Lasten der
parasitären Schichten.
( d )
Zuletzt noch einige Bemerkungen. Wir sollen
unbedingt verstehen, was wir sind und wie wir es geworden sind. Jedes
Volk müsste über dieses Wissen verfügen, müsste wissen, was es
konstituiert hat und was es zusammenhält, oder was es zusammenhalten
soll. Bloß aus dem Fundus eines solchen Selbstbewusstseins kommt man
zu heilenden und zukunftsweisenden Gedanken. Dies ist der Königsweg,
um die historischen Defizite unseres Landes zu beheben. Nur damit
können wir den höchsten Hebeleffekt erzielen. Wie sonst kann man
den Dreh- und Angelpunkt zum Handeln finden, wenn nicht über die
Reflexion über sich selbst und über Erweiterung des eigenen
kognitiven Horizonts? Nur so kann ein kleines Wunder geschehen: die
Reinigung und Verwandlung seiner selbst und anderer.
Es ist eine lang vernachlässigte Pflicht,
‚ziviles’ Wissen und Momente des Austauschs und der
Wissensverbreitung zu schaffen, ausgehend von unten, von den Bürgern.
Es ist verantwortungslos, der Übermacht bestimmter TV-Sender, dem
wahren Opium des Volkes, nichts entgegenzusetzen. Jeder sollte sich
in Organisationen engagieren, die gezielt den Bürgersinn fördern.
Aber gezielt in welche Richtung?
Ansätze dazu findet man, wie ich meine,
bereits auf den vorangegangenen Seiten. An erster Stelle stehen
meines Erachtens der Erwerb und die Verbreitung von Wissen über die
Geschichte Italiens, insbesondere in ihren entscheidenden
Wendepunkten und im Rahmen der europäischen Geschichte. Aber sicher,
wenn die geeigneten interpretatorischen Instrumente nicht zur
Verfügung stehen ... dann wird die Geschichte zu einem Rosenkranz
aus Fakten, die in ihrer Bedeutung unklar bleiben. Man muss also
auch auf die Ideengeschichte genauestens achten und verdrängtes
Wissen wieder vermitteln.
Ein eklatantes Beispiel: Es ist
bedauerlich, dass das Werk „De Monarchia“ von Dante niemals Teil
der kulturellen Grundlage jedes italienischen Bürgers geworden ist.
Dieses spröde und leidenschaftlich geschriebene Werk war ein
herausragender Versuch, die Idee einer auf Europa bezogenen
Theokratie anzufechten und sich ihr entgegenzustellen. Es ist
ebenfalls eine klare und gnadenlose Analyse des Übels, das sich
unter den „schützenden“ Flügeln der vereinten (geistigen und
weltlichen) Macht der Kirche entwickelt hatte, nämlich der
cupiditas,
Mutter jeglicher Form von Korruption. Es ist eine Aufforderung zum
buon governo,
zum guten Regieren, das eigentlich der universalen weltlichen Macht
zusteht, damals dem Kaiserreich. Es ist auch ein Appell, eine
Mahnung, dem Frieden zuliebe, dem kostbarsten Gut für die
Gemeinschaft der Menschen, jenen Weg einzuschlagen.
Nun, ich erinnere mich vage an meine
Schulzeit, aber ich meine, dieses Werk von Dante wurde als
anachronistisch abgetan, geschrieben von jemandem, der die
Entwicklung der Autonomie der Kommunen nicht wahrhaben wollte. In der
Tat lag der Ruhm ... damals ... auf der Seite der Helden von Pontida
und Legnano! Aber wie konnten wir bloß solche Märchen schlucken?
Dabei kannte der Verfasser von „De Monarchia“ das Leben der
autonomen Städte sehr gut und wenn er nicht geflüchtet wäre, hätte
er seinen Kopf nicht retten können! Dabei kann „De Monarchia“
auch als ein unverzichtbarer Anhang zur „Divina Commedia“
betrachtet werden. Dabei hatte Dante doch schon vor, Papst
Bonifatius VIII. und andere Päpste in die Hölle zu
verpflanzen! Wie kam eine solche Verdrehung der Wahrheit zustande?
Spricht die Tatsache, dass das Werk nur wenige Jahre nach seiner
Entstehung aus dem Verkehr gezogen wurde, nicht für sich? Einmal in
der Versenkung verschwunden, tut sich Erkenntnis schwer damit, wieder
ans Licht zu kommen. Wenn sie es dann doch schafft, aber von
niemandem gehütet und verbreitet wird, dann bleibt sie leider leblos
und wirkungslos.
Das Leitkriterium für ein Überdenken
unserer ganzen Geschichte ergibt sich, wie ich meine, von selbst: Es
ist die Notwendigkeit, den Sinn für das Allgemeingut zu schaffen und
zu verbreiten.
Einige Schlüsselfragen, die es verlangen,
immer wieder untersucht zu werden oder die zum Nachdenken auffordern,
sind meiner Ansicht nach: der Investiturstreit, der Kampf zwischen
Guelfen und Gibellinen, Kommunen und Signorie, die Renaissance in
Italien, die Reformation und Gegenreformation, die Bildung moderner
Nationalstaaten, das Risorgimento und die nationale Einheit, der
Erste Weltkrieg, der Faschismus, der antifaschistische Widerstand und
die Republik Italien.
Ich denke, dass die Bildung eines Netzes
von kulturellen Vereinigungen in Italien, die sich den Bürgersinn
auf die Fahne schreiben, wirklich der Königsweg ist, um diese
Aufgabe zu erfüllen. Natürlich gehört dazu die Absicht, ein
breites Publikum zu erreichen, Begegnungen, Vorträge,
Wanderausstellungen, Kontakte zu den Schulen zu organisieren. Wir
müssen auch ein Ansporn für die Verlagswelt sein, damit
entsprechende Texte produziert und ausreichend verbreitet werden.
Es ist viel zu tun, liebe Freunde. Aber
könnte man sich eine schönere und nützlichere Arbeit als diese
vorstellen?
Heidelberg, 29 / 12 / 2010
14
Beppe Vandai
Text des Vortrags “Nave senza
nocchiere…”, gehalten vom Autor am 24.02.2011 im ISTITUTO
ITALIANO PER GLI STUDI FILOSOFICI –
– Scuola di Heidelberg (Apothekergasse
3, 69117 Heidelberg).
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