Die
Eurokrise ist über ein Land hereingebrochen, das schon zuvor in
einer zweifachen Krise steckte – einer Wirtschaftskrise und einer
politischen Krise. Es besteht doch kein Zweifel, dass diese Krise in
allererster Linie eine politische und dann in zweiter Linie eine
wirtschaftliche ist. Genauer gesagt: Die Wirtschaftskrise des Landes
ist die Folge einer lang anhaltenden, tiefen, politischen Krise
.
Was
meine ich damit? Sowohl durch eine Pattsituation
zwischen den größeren politischen Lagern,
die in Italien agieren, als auch durch
die nicht verfassungskonformen Tendenzen im rechten Lager
ist das Land seit gut 20 Jahren lahmgelegt. So wurden keine
Strukturreformen angepackt, etwa um die Staatschulden aus den
80er/90er Jahre radikal abzubauen oder um dem Lande eine nachhaltige
Wirtschaft- und Industriepolitik zu geben. Die Phase der
Niedrigzinsen, eine positive Folge der Einführung des Euro, wurde
vollkommen verpasst.
Was
ist passiert ?
>>>
Einerseits ist die Steuerlast,
die die steuerlich erfasste Bevölkerung zu schultern hat, immer
größer geworden.
Dadurch wurden und werden v.a. die
produktiven Kräfte stark bestraft .
>>>
Andererseits wurden viele Ausgaben
– selbst die notwendigsten, wie die für die Universität, für die
Schulen, für die Forschung, für die Instandsetzung der
Infrastruktur usw. – drastisch
gekürzt.
Der Staat ist immer weniger in der Lage, seine institutionellen
Aufgaben zu erfüllen.
Schon
in den 90ern Jahren, aber auch nach der Euroeinführung, um
spekulativen Turbulenzen wegen der hohen Staatsschulden vorzubeugen,
musste Italien Jahr für Jahr einen hohen Primärüberschuss
(Einnahmenüberschuss
des Staates ohne Berücksichtigung der Zinsen) erwirtschaften. Die
Gesamtsumme des Primärüberschusses von 1995 bis 2012 betrug 593
Milliarden Euro (in jetziger Kaufkraft). Insgesamt wurden Zinsen im
Wert von 1445 Milliarden Euro bezahlt. 40% davon mit dem genannten
Primärüberschuss, 60% aus dem regulären Etat oder durch die
Neuverschuldung. Der Anteil des Primärüberschusses an den
Zinszahlungen ist ein Rekord in Europa. Zum Vergleich: die
Niederlande haben in derselben Zeit 25% der ausgezahlten Zinsen durch
den Primärüberschuss gedeckt, Deutschland 17%. [ Quelle: Prof.
Marco Fortis, siehe
http://www.ilsole24ore.com/art/notizie/2013-07-26/miglior-debito-quello-italiano-063818.shtml?uuid=AbQLSaHI
]. Bei anderen ‚gesunden’ Ländern ist der Prozentsatz noch
niedriger. Bei Ländern wie Portugal, Spanien, Griechenland und
Irland wurden die Zinsen hingegen im großen Format mit neuen
Schulden bezahlt.
Dieser
Kraftakt Italiens
hat tiefe Spuren hinterlassen.
Die
Staatschuld lag vor der internationalen Finanzkrise bei ca. 105% des
BIPs. Sie ist 2011 auf 120% und mehr geklettert und die Prognose für
2014 liegt bei einer Staatschuld von 134%, abermals weil das BIP
durch die Folgen der Austerität sinkt. In den letzten 6 Jahren (2008
– 2013) ist das italienische BIP nämlich um fast 9% gesunken.
Zweierlei muss man hinzufügen:
a)
Die Wettbewerbsfähigkeit der exportierenden Industrie wurde am
wenigsten beeinträchtigt. Die Ausfuhr ist beinahe parallel zum Trend
der deutschen Industrie gestiegen. Was zusammengebrach, ist der
Binnenmarkt. Der Einbruch war v. a. durch 3 Faktoren bedingt: die
gesunkenen Kaufkraft der Konsumenten, die Zukunftsangst und die
Kreditklemme.
b)
Das Gesamtvolumen der Schulden ist kaum gewachsen. Es ist aber
schwerer geworden, sie zu honorieren. Die bezahlten Zinsen belasten
aktuell den Haushalt um ca. 5% des BIPs: eine enorme Bürde.
Und
noch was: Italien hat auch mit seinem Anteil zur Unterstützung
einiger Länder mit mehr
als 50 Mrd. Euro
beigetragen, ohne Lockerung der Schuldengrenze.
Italien
hat weniger häufig als andere Länder und in kleinerem Maße die
Defizitgrenze von 3% überschritten. Aber trotzdem wird es extrem
stark von der EU-Kommission kontrolliert und ermahnt.
Das
Land hat auch die Finanzkonsolidierung fortgesetzt… aber wie? Durch
Steuererhöhungen! Deswegen durchläuft es seit mehr als 2 Jahren
alle klassischen Stationen einer ökonomischen Depression: Zuerst die
Rezession,
dann die depressive
Stagnation.
Schließlich rutscht es langsam in die Deflation.
Parallel entstehen natürlich: Hohe Arbeitslosigkeit und die
Ausweitung von prekären und schlecht bezahlten Jobs.
Und
jetzt? Großer Unmut weitet sich im Lande aus. Gegen die ganze
italienische Führungsschicht, aber zunehmend auch gegen Europa. In
erster Linie gegen Deutschland, das unnachgiebig eine rezessive
Politik abzwingt und dem Lande nicht erlaubt, eine gemäßigt
expansive Wirtschaftspolitik zu betreiben (sagen wir salopp: eine
Wirtschaftspolitik à la Keynes), das bis jetzt einzige bewährte
Rezept gegen Wirtschaftsdepressionen. Und dies, obwohl der bisherige
Plan, der sichere Erfolge durch die Austerität versprach, tief
enttäuscht hat. Stattdessen haben sich bis jetzt – im Hinblick auf
die aktuelle Euro-Krise – alle Warnungen und Prognosen der
Keynesianer bewahrheitet (siehe z. B. Stellungnahmen von
ausgewiesenen Makroökonomen wie Paul Krugman, Joseph Stiglitz oder
Dani Rodrik).
Die
meisten italienischen Ökonomen – aus allen Schulen und Richtungen
– plädieren seit Jahren für eine dreifache Therapie:
a)
Selektive Restrukturierungen im öffentlichen Dienst und Kürzungen
der Staatsausgaben, Liberalisierungen im Arbeitsmarkt und im
Dienstleistungssektor (das deckt sich beinahe mit den Empfehlungen
aus Brüssel und Berlin),
b)
Steuerentlastungen für das produzierende Gewerbe und das
Dienstleistungssektor sowie für die erwerbstätige Bevölkerung,
Bekämpfung der Steuerhinterziehung,
c)
Ankurbelung der Wirtschaft durch öffentliche, sinnvolle
Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung, massive
Investitionen in Forschung.
Was
ist aber geschehen? Punkt (c) war v. a. wegen der 3%-Klausel des
maximalen jährlichen Defizits nicht praktikabel. Steuerentlastungen
(siehe Punkt (b)) waren nicht praktikabel… eben wegen des Punkts
(c). Sollte man also bei ( a ) – Restriktionen und Kürzungen –
ansetzen? Das ist schließlich das, was Berlin und Brüssel immer
wieder monieren. Nur, es gab zwei Bedenken bzw. Schwierigkeiten, die
erste wirtschaftlicher Natur, die zweite rein politischer Natur.
1
) Während einer schweren Rezession bzw. Depression sind selbst
gerechte Kürzungen im Staatsetat zuerst Gift für die Konjunktur.
Mit anderen Worten: Solche Kürzungen wirken rezessiv und können,
wenn andere Maßnahmen nicht entgegenwirken, wie das Fasten für
einen schwer angeschlagenen Patienten sein.
2
) Solche Kürzungen verärgern und enttäuschen Teile der
Bevölkerung. Um sie durchzusetzen, muss die Regierung so stark sein
und ein so hohes Ansehen genießen, dass auch unpopuläre Maßnahmen
akzeptiert werden.
Die
politische Lage in Italien erlaubte und erlaubt nicht – jeder
besonnene Außenstehende würde es so sehen – einen so waghalsigen
Weg zu gehen. Das haben sowohl Monti als auch Letta eingesehen.
Was
blieb also übrig? Da (a), (b) und (c) bis jetzt nicht praktikabel
oder zu riskant waren und sind, wurde auf eine andere Maßnahmenart,
die zuerst kein Ökonom empfohlen hatte, zurückgegriffen. Nennen wir
sie: (d). Es wurden nämlich Steuererhöhungen beschlossen.
Man
wusste, dass auch Steuererhöhungen rezessiv wirken, dass sie keine
nachhaltige Lösung sind. Man wusste auch, dass sie ebenfalls
unpopulär sind. Andererseits wirken sie schnell (v. a. die
indirekten Steuern). Um Zeit zu gewinnen, waren sie aber m. E. noch
die beste Lösung. Man könnte fragen: Was für eine Zeit? Es macht
Sinn, Zeit zu gewinnen, wenn man auf etwas hofft. Aber worauf? Ich
würde sagen: Dass die
Vernunft in Europa –
besser gesagt, in Deutschland – wieder
einkehrt und die
3%-Klausel für ein Land in Not endlich gelockert wird.
Wenn gerade diese Klausel und nur diese Klausel andere positive
Maßnahmen verhindert, warum sollte sie Geltung haben, als ob es das
Wort Gottes wäre?
Monti
hat immer wieder versucht zu erreichen, dass neue, begrenzte
Staatsschulden für sinnvolle Investitionen in dieser Notlage
außerhalb der Defizitgrenze gebucht werden. Auch die Finanzhilfen,
die für die europäischen Fonds, die zur Rettung der angeschlagenen
Länder zur Verfügung gestellt wurden, belasten den italienischen
Haushalt. Monti hat ebenfalls vorgeschlagen, dass auch diese
Positionen ausgenommen werden. Er musste aber auf Granit beißen.
Wozu diese Prinzipientreue, wenn es klar ist, dass eine gewisse
Regel, mindestens vorübergehend, einer der größeren europäischen
Wirtschaften drastisch schadet?
Ein
ganzes Land fängt an, sich zu fragen, ob der Euro die Mitursache
der eigenen Misere ist. Europa, und zwar ein zunehmend von
Deutschland bestimmtes Europa, wird immer häufiger als Hindernis
betrachtet. Warum keine Flexibilität in der Behandlung der
verschiedenen Krisenherde? Warum wird alles über einen Kamm
geschoren?
Noch
mehr: Warum wird Europa bloß durch die Brille der Wirtschaft gesehen
und regiert?
Schlussbemerkung:
Wirtschaftliche Vorteile waren früher die
treibende Kraft der
europäischen Integration. Die Wirtschaft hat früher eine eindeutig
positive Rolle dabei gespielt. Aber weil die anderen Felder sträflich
vernachlässigt wurden, befinden wir uns nun in der gegenteiligen
Lage. Die aktuelle
Wirtschaftspolitik in
Europa ist eher zu einem Spaltpilz
geworden, sie ist nicht mehr imstande, Europa ein einheitliches
Gesicht zu geben. Sie ist auch nicht imstande zwischen den Ländern
wirklich zu vermitteln. Keine guten Vorzeichen für die
bevorstehenden Europawahlen. Wir erwarten eine Zunahme der
politischen und wirtschaftlichen Spannungen. Und leider ist kein
überzeugendes Konzept in Sicht. So haben wir von Volta
La Carta!! gedacht.
Aber
dann haben wir das Papier der Glienickergruppe gelesen… endlich ein
Hoffnungsschimmer.
Ausgearbeitete
Fassung
der
Einführung von Beppe Vandai zum
Vortrag
von Prof. A. von Bogdandy
AUFBRUCH
IN DIE EURO-UNION
Heidelberg,
13. 12. 2013
Volta
La Carta!! e. V. – Heidelberg
WOHLGEMERKT:
Zum Papier der Glienicker Gruppe:
Siehe auch das PROTOKOLL der KONFERENZ von
Prof. A. von Bogdandy
vom 13.12. 2013
“AUFBRUCH IN
DIE EURO-UNION” [ siehe meine
Mail v. 18.12.13 ]
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